„Eine andere Welt“ – Wie die Krebstherapie in den vergangenen Jahren revolutioniert wurde und warum der Krebs damit noch lange nicht Geschichte ist

NGS-Geräte

230 000 Menschen sterben in Deutschland an Krebs. Jahr für Jahr. Mehr als die doppelte Zahl erkrankt an einem Tumor. Eine halbe Million mal Angst, Schmerzen, Leiden. Dem die texanischen Ärzte des MD Anderson Cancer Center eine radikale Vision entgegengesetzt haben: „Making Cancer History“ – lasst uns den Krebs überwinden. Doch kann das funktionieren, ist dieser Optimismus gerechtfertigt – werden Tumore also bald schon der Vergangenheit angehören?

Markus Falk vom Hamburger Institut für Hämatopathologie ist skeptisch: Es gibt Krebsarten, denen nach heutigem Stand noch überhaupt keine Therapie gewachsen ist. Andere lassen sich immer besser im Schach halten, lassen sich mit der zielgerichteten Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI) oder der Immunonkologie auf neue Weise angehen. Doch es bleibt: der Krebs. „Die Patienten sind nicht geheilt“, so Falk. „Aber ihre Lebensqualität hat sich entscheidend verbessert.“

Weshalb dies jetzt nicht die Geschichte eines anstehenden medizinischen Wunders ist. Sondern eine Geschichte vieler kleiner Wunder in sehr kurzer Zeit. Und damit durchaus auch eine Geschichte der Hoffnung für die Patienten und ihre Angehörigen. Denn wenn der Krebs sich schon nicht so bald besiegen lässt – die Menschen haben in Rekordzeit viel drüber gelernt, wie man ihn im Schach halten kann. Wie man ihn Wachstum hindert, Meter für Meter, Schritt für Schritt. Aber was für Schritte! Falk: „Das ist schon revolutionär. Ich habe vor 13 Jahren angefangen, diagnostisch zu arbeiten. Das ist ja noch nicht so lange her – aber es war eine andere Welt“.

Für Markus Falk ist das erstaunlich: Die Analyse des humanen Genoms hatte nach 1990 über zehn Jahre gedauert und ca. drei Milliarden Euro gekostet – sequenziert wurde damals ein menschliches Genom. „Das kann man jetzt für 1000 Dollar in drei Stunden machen“, so Falk: „Und sowas kann man nur eine Revolution nennen.“ Markus Falk hat diese Jahre als atemberaubend erlebt – und zwar vor allem auch aus dem Blickwinkel der Patienten: „Vorher war man nicht in der Lage die seltenen genetischen Treiber diagnostisch anzugehen, auch weil man sie nicht kannte. Wir haben oftmals an den Schlüsseln der Erkrankung vorbeisequenziert. Jetzt kann man sie erwischen.“

Nicht die Geschichte des baldigen Sieges der Menschheit über den Krebs also. Aber viele oft große Schritte. In Rekordzeit hatten Ärzte und Forscher die Tumorzellen noch mal ganz neu kennengelernt. Doch wie kam es zu diesen Schritten, wie liefen sie ab? Und warum so schnell?

Zu tun hat das zum einen mit dem radikalen Wandel der Diagnostik-Methoden. Jahrelang versuchte man, Krebszellen und ihr verhängnisvolles Wirken zu verstehen – ohne großen Erfolg. Die Sanger-Sequenzierung ist seit vielen Jahren vertraut. Doch wie sollte man jeden Krebs-Patienten auf die vielen möglichen Genmutationen untersuchen? Wonach überhaupt suchen im Pool aus rund 30 000 Genen? Es war immer auch ein Fischen im trüben Teich. Bis die Grundlagenforschung Quantensprünge machte – bis die Forscher lernten, welche Mutationen überhaupt für die Entwicklung eines Tumors wichtig sind und was ein bestimmtes Gen im Körper macht. Welches Gen sich also auch lohnen würde, zu inhibieren, um den Krebs am Wachstum zu hindern. Und bis vor etwa sieben Jahren das NGS diagnostisch nutzbar wurde – das Next Generation Sequencing. Allein schon technisch eine Revolution. Aber eben auch, wenn es darum geht, die Charakteristika von Krebszellen zu durchschauen: „Mit dem NGS hat sich die Sequenzierdurchsatz so beschleunigt, dass man das ganze Genom beispielsweise in acht Stunden durchsequenzieren kann“, so Markus Falk. Das Problem besteht jetzt also nicht mehr darin, große Bereiche zu sequenzieren – jetzt geht es darum, die riesigen Mengen an Daten richtig zu interpretieren. Ärztinnen und Ärzte lernen, wo sie im Kampf gegen den Krebs ansetzen können. Wo also seine Schwachstelle liegen könnte. Einige Jahre später kam das Hybrid-Capture NGS – nun ließen sich auch weniger bekannte Entitäten wirksam angehen. Etwa das Lungenkarzinom: „Da kann man alles erwarten“, so Stefanie Schatz vom Institut für Hämatopathologie. Wo man gelernt hat, dank Hybrid-Capture NGS auch diese hochkomplexen Mutationen zu durchschauen. Die Molekularbiologin: „Nur wenige Institute in Deutschland machen das. Es ist das beste, was momentan durchführbar ist“.

Doch diese Revolution hatte eben nicht nur mit neuen Analyse-Methoden zu tun. Auch die sich daraus ergebenden Behandlungs-Optionen haben dramatische Fortschritte gemacht. Präzise gehen die TKI (Tyrosinkinase-Inhibitoren) die Treibermutationen der Patienten an, passgenau kann die Pharmaindustrie Medikamente entwickeln, die eine spezifische genetische Alteration zum Ziel haben. Dank dieser mikropräzisen Medikamente gibt es nun für rund ein Viertel der Patienten mit Lungenkarzinom wirksame Hilfe – neue Medikamente könnten, sobald sie zugelassen sind, diese Quote sogar auf 50 Prozent heben. Den verbleibenden Patienten steht eine Immuntherapie zur Verfügung: Dem Tumor wird mithilfe von medikamentösen Antikörpern die Tarnkappe entzogen. Daraufhin kann das das Immunsystem der Erkrankten (speziell die zytotoxischen T-Zellen) den Tumor wieder angreifen.

Für die Patienten sind beide Therapie-Optionen ein Segen. Markus Falk: „Früher hat jeder mit Lungenkrebs eine Chemotherapie bekommen. In den vergangenen zehn Jahren ist die Chemotherapie als alleinige Therapie beim Lungenkrebs weitgehend in den Hintergrund gerückt – das ist schon beeindruckend“. Stefanie Schatz denkt dabei vor allem auch an die drastischen Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Patienten: „Diese zielgerichtete Therapie ist sehr gut verträglich. Die Patienten gehen nach Hause, sind nicht schlapp, hängen nicht am Chemo-Tropf. Sie gehen arbeiten, treiben Sport.“

Doch mit den TKI beginnt auch ein Wettrennen – denn Heilen lässt sich der Krebs eben weiterhin nicht. Es kommt zum Duell zwischen Tumor und Therapiesequenz. Ob Lunge oder Leukämie: In über 90 Prozent der Fälle lernt der Tumor, dem medikamentösen Druck zu entkommen, manchmal nach Jahren, manchmal auch schon nach Monaten. Damit stehen dann neue Tests und ein neues Medikament an – in der Zweitlinie sind so erneut Erfolge zu erzielen. Für ein weiteres Jahr oder zwei. Wie lange lässt sich dieser Kampf durchhalten, wann gehen den Ärzten die Optionen aus? Markus Falk ist verhalten optimistisch: „Die Chemotherapie hat einem Lungenkrebspatienten eine Lebenserwartung von neun Monaten gegeben. Jetzt sind es mit TKI vier Jahre und in zehn Jahren sind es dann vielleicht schon zehn Jahre.“

Und sollte die Forschung dann nicht mehr nachkommen mit Medikamenten gegen die immer neuen Resistenzen? Dann bleibt die Immuntherapie. Und schließlich die Chemo – mit ihren oft belastenden Nebenwirkungen. Ein Weg, den nicht alle Patienten bereit sind, zu gehen. Markus Falk über die gravierenden Entscheidungen, die diese Erkrankten für sich treffen müssen: „Viele haben unter Chemotherapie überhaupt keine Lebensqualität – die wollen die Therapie nicht, haben Angst vor den Nebenwirkungen. Wer jung ist, wer Kinder hat, für den mag jeder zusätzliche Tag zählen. Aber bei älteren Leuten ist das oft anders: Die haben keine Lust mehr, sich zu quälen und so noch ein paar Monate rauszuschlagen. Die haben ganz andere Prioritäten, für die zählt Lebensqualität – das ist etwas, das ich für mich erstmal lernen musste“.

Und die Heilung? Dieser ganz große Plan, den Krebs auszurotten? Wenn der Tumor also doch bleibt – wird er kontrollierbar werden? Markus Falk: „Das wird sich ganz stark aufspalten: Einige Krebsarten wie Weichteiltumore oder Knochensarkome werden mit einer eher schlechten Prognose verbunden sein – daran wird sich möglicherweise in naher Zukunft nicht viel ändern. Für die Behandlung der Pankreaskarzinome könnten KRAS-Inhibitoren Hoffnung bringen. Es gibt aber auch Entitäten wie bestimmte Leukämien (z.B. Promyelozytenleukämie) oder Subgruppen des Prostata-Karzinoms, bei denen so lange Remissionsphasen erreicht werden können dass man von Heilung sprechen kann. Mit denen kann man dann alt werden bzw. man stirbt nicht mehr am Krebs.“

Das Happy End dieser Medizin-Geschichte – es muss also erst noch geschrieben werden. Stefanie Schatz über die oft dramatische Entwicklung der vergangenen paar Jahre: „Wir haben einen Riesenschritt gemacht. Der muss jetzt erst einmal konsolidiert werden.“

Es wird also noch dauern, bis der Krebs wirklich Geschichte ist – vorerst wird es in kleinen Schritten weitergehen. Gegenwärtiges großes Ziel: noch differenzierter an die Bekämpfung der Tumorresistenzen herangehen.