Kampf mit Bordmitteln – PD-L1 und das Tumor Mutational Burden: Wie der Kampf gegen den Krebs durch die Mobilisierung des Immunsystems gewonnen werden kann

Es waren doch nur zehn Jahre. Aber was für welche! Vielen TumorpatientInnen brachte die vergangene Dekade ungeahnte Hoffnung. Manchen brachte sie sogar Heilung. Und für ÄrztInnen und ForscherInnen brach eine neue Welt an: War es vorher im Kampf gegen den Krebs in den allermeisten Fällen der große Schrotschuss – die Chemotherapie – so stehen jetzt zielgenaue Verfahren zur Verfügung: Präzise Angriffe auf einen Tumor mit maßgeschneiderten Methoden. Wie etwa die Immunonkologie, die dem Körper helfen will, selbst den Kampf gegen den Krebs aufzunehmen.

PD-L1-Testung

„Anfangs wollte man mir noch erklären, dass das kein Mensch braucht und das eine Chemotherapie besser ist“, so Markus Tiemann, Leiter des Instituts für Hämatopathologie. Es sind dramatische neue Erkenntnisse und radikale Schritte in dieser kurzen Zeit: ÄrztInnen und ForscherInnen haben gelernt, Antikörper zu instrumentalisieren, die dann das Immunsystem des Patienten lenken und stärken: „30 Jahre lang gab es nichts außer den immer gleichen Zellgiften der Chemotherapie. Das hat sich jetzt geändert“, so Tiemann, der durch die dramatischen Fortschritte in der Immunonkologie gleich zwei Vorteile für die Patienten sieht: eine deutlich bessere Lebensqualität während der Therapie und eine markant gestiegene Lebenserwartung im Angesicht der Tumor-Diagnose.

Zwei Marker weisen den ÄrztInnen jetzt schon den Weg: der PD-L1-Spiegel, also die Menge des PDL-1-Proteins auf der Oberfläche der Tumorzellen der PatientInnen und das TMB, das Tumor Mutational Burden. PD-L1 ist ein vom Tumor gebildetes Oberflächenprotein, das mit Rezeptoren auf den T-Helferzellen reagiert und sie abschaltet: ein Stoppschild also für die Immunabwehr, das den Krebs ungestört wachsen lässt. Im Institut für Hämatopathologie wird die PD-L1-Expression mit Hilfe von Färbungen bestimmt – dabei gilt für die behandelnden ÄrztInnen: Je höher diese Expression, umso aussichtsreicher wird die nachfolgende Therapie. Bei PatientInnen mit nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom und beim malignen Melanom ist eine Immuntherapie, die sich gezielt gegen PD-L1 richtet, mittlerweile sogar die erste Wahl. Bei 20 Prozent der Patienten wirkt sie ohne weitere Hilfen, bei weiteren 50 Prozent der Patienten wird sie mit einer abgespeckten Chemotherapie kombiniert. Rund 20 Prozent versterben dennoch am Tumorleiden bereits kurz nach Therapiebeginn – die Zusammenhänge sind noch unbekannt. Noch mal viel präziser wird die Diagnose jedoch mit Hilfe des TMB, des Tumor Mutational Burden. Ein zweiter Marker, der sogar dann noch helfen kann, wenn die PD-L1-Expression kaum messbar ist.

Für beide Marker gilt: Man kann nun die Therapie für die PatientInnen sehr präzise ausrichten – vorher getarnte Angriffspunkte für eine Immunantwort des Körpers auf den Tumor werden auffindbar. „Da stand dann vorher jemand auf der Bremse und plötzlich ist der weg. Man kann also in der Immuntherapie Gas geben“, so Tiemann. Einzige Voraussetzung: Die Tumorzellen müssen vom Körper als fremd identifiziert werden – dafür müssen sie Mutationen haben, die für Proteinunterschiede auf der Oberfläche sorgen: perfekte Zielscheiben also für die therapeutischen Bordmittel des eigenen Körpers.

Doch während PD-L1 von den Ärzten meist schon mit der ersten Immunhistologie im Institut angefordert wird, hat sich das TMB-Panel noch nicht durchgesetzt: „Da sagen dann viele: ‚Da können wir gar nichts mit anfangen'“, so Stefanie Schmidt, Leiterin NGS des Instituts für Hämatopathologie: „Aber das war auch in anderen Fällen schon so, dass wir die Leute erst über Jahre hinweg mit Ergebnissen überzeugen mussten“. Im Institut hat man kürzlich die größte TMB-Serie in Europa analysiert, 419 Patienten wurden dabei untersucht.

Zu tun hat das Zögern der Ärzte aber eben auch mit ihren Budgets. Markus Tiemann nennt Zahlen: „Eine immunhistologische Untersuchung kostet etwa 30 Euro. Anschließend wissen wir, ob die Tumorzellen PD-L1 haben. Eine TMB-Untersuchung kostet 2800 Euro, die Krankenhäuser können sich das nicht leisten.“ Kein Wunder also, dass die Kliniken noch zögern – trotz erstaunlicher neuer Möglichkeiten. So wurde mit Pembrolizunab (Handelsname: Keytruda) der erste Wirkstoff zugelassen, der tumoragnostisch wirkt. Ganz egal also, was für ein Tumor es ist – das Medikament hilft immer. Einzige Voraussetzung ist, dass das TMB entsprechend hoch ist – „ein absolut innovativer Ansatz“, so Tiemann.

Und da ist noch eine Erkenntnis – mehr als nur ein Streifen Hoffnung am Horizont: Bei 20 bis 25 Prozent der Patienten wächst der Tumor auch nach acht Jahren nicht weiter, manche sind sogar ganz tumorfrei. Sie könnten also geheilt sein – nicht auszuschließen, dass die körpereigene Immunabwehr soweit angeregt wurde, dass selbst bei einem Absetzen der Therapie die lebenswichtigen Abwehrprozesse weiterlaufen. Das Immunsystem der Patienten hat einen Kickstart erhalten – nun kann es ohne weitere Hilfe von außen den Tumor im Schach halten. Der Kampf mit Bordmitteln – für diese PatientInnen geht er mit einem Sieg aus. Möglicherweise sogar einem dauerhaften Sieg: „Das finde ich faszinierend“, so Tiemann über die Erfolge der Immunonkologie: „Das ist ganz anders als bei den TKIs (Tyrosinkinase-Inhibitor) – bricht man die ab, etwa weil der Patient die Therapie nicht verträgt, wächst der Tumor schon wieder“.

Stichwort Verträglichkeit: Auch die Immuntherapie kann schwerwiegende Folgen für die Patienten haben. Als häufigste Nebenwirkung droht der Angriff der körpereigenen Kräfte auch Autoimmunkrankheiten auszulösen, etwa die Lungenentzündung Pneumonitis. Viele dieser Therapiefolgen lassen sich problemlos im Griff behalten, doch im schlimmsten Fall bleiben schwere Erkrankungen zurück – und zwar eben auch, wenn die Therapie abgesetzt wurde. „Da mussten die Ärzte auch erstmal eine Menge lernen, um das jetzt zu steuern“, so Markus Tiemann über die frühen Erfahrungen mit der Immunonkologie.

Doch bei der Mehrheit der Patienten sind die Nebenwirkungen dann eben doch gut kontrollierbar und die wenigsten dürften diese Probleme als Rückschlag erleben – denn Risiken und Nebenwirkungen einer Chemotherapie sind noch ungleich größer und vor allem: Die Überlebensdauer nimmt dank der Immuntherapie auch deutlich zu. Tiemann findet das ermutigend: „Sie müssen sich vorstellen, dass die mittleren Überlebenszahlen beim Lungenkarzinom oder beim schwarzen Hautkrebs in seiner vierten, also der metastisierten Phase vier bis sechs Monate betragen – selbst mit Therapie. Jetzt gibt es Patienten in diesem Stadium, die acht oder zehn Jahre schaffen. Und das bei guter Lebensqualität.“

Zielgerichtete Therapien bei soliden Tumoren sind erst seit 2006, kamen nach 2010 zur Anwendung. 2018 gab es den Medizin-Nobelpreis für den US-Amerikaner James P. Allison und der Japaner Tasuku Honjo – die beiden Forscher hatten Wege gefunden, das körpereigene Immunsystem gegen Krebs einzusetzen. All das sind dramatische Veränderungen in einer kurzen Zeit. Und noch ist vielmehr möglich: „Wir wissen noch viel zu wenig“, so Stefanie Schmidt: „Wir haben mit PD-L1 einen Marker. Wir wissen aber, dass es fünf oder sechs weitere gibt. Die anderen werden jetzt ausprobiert“. Mit der Folge, dass die Immuntherapie immer mehr an Land gewinnt gegenüber der Chemotherapie. Schmidt: „Jetzt ist die Chemo noch erste Wahl – man weiß, dass die sich bewährt hat.“ Doch immer mehr Patienten erhalten eine Immuntherapie – trotz der immer noch erheblichen Kosten.

Und nur mal angenommen, die Veränderungen gehen in gleicher Geschwindigkeit weiter? „Auch in zehn Jahren werden bestimmte Tumore noch mit Chemotherapie behandelt – aber dann vermutlich in einer abgespeckten Version oder in Kombination mit einer Immuntherapie“, so Markus Tiemann. Er ist sich sicher: „Innerhalb der kommenden 20 Jahre wird der Großteil der Patienten mit Immunonkologie behandelt werden.“ Eine Anwendung bei 80 Prozent der PatientInnen hält Tiemann für realistisch – und zwar dann bei allen Tumorarten.

Und die Kosten? Noch sind da viele Fragezeichen – aber unterbricht man die Immuntherapie oder setzt sie sogar ab, um zu sehen, wie der Tumor sich entwickelt, dann ist da Hoffnung. „In den meisten Fällen bleibt der Tumor gleich oder wird sogar kleiner.“ Mit ein bisschen Glück lässt sich der Tumor also nach einem bestimmten Zeitraum vom Körper allein im Schach halten – ganz ohne weitere Therapie. Es wäre der Sieg der Bordmittel über den Angreifer.