Krebs aus Sicht von Angehörigen

Mehr als 500.000 Menschen erkranken jährlich in Deutschland an Krebs. Und damit beginnt auch für Ehepartner und Ehepartnerinnen, Lebensgefährten, Kinder, Eltern und Geschwister eine Zeit der Ängste, Herausforderungen und Unsicherheiten.

„Es tut mir leid, aber Sie haben Leukämie.“ Der Satz des Arztes reißt Tanja Burkhardt (Name geändert) den Boden unter den Füßen weg. Dass die Erschöpfung ihres Mannes nicht nur mit dem neuen Jobprojekt zusammenhängt, hat sie schon geahnt, ihn deshalb zum Arztbesuch überredet. Dass Blutkrebs die Ursache ist, kann sie nicht fassen, die Momente im Behandlungszimmer des Arztes erlebt sie wie im Film. Leukämie. Für Tanja Burkhardt bricht in diesem Moment die Welt zusammen. Das weitere Gespräch mit dem Arzt erlebt sie wie in Trance, wie sie später sagt. Dann heißt es: funktionieren, irgendwie weitermachen und in einer Zeit der Ausnahmezustände ein Stück weit Normalität zu wahren. Besonders für die Tochter. Für Tanja Burkhardt eine Zerreißprobe zwischen Alltag mit Kinderturnen und Fahrten zur Klinik, in der ihr Mann inzwischen behandelt wird.

Die Pathologen suchen mit Hilfe von Durchflusszytometrie, zytologischer und molekularpathologischer Untersuchungen nach der besten Therapie für ihren Mann. Medizinische Begriffe, mit denen Tanja Burkhardt nichts anfangen kann. Sie ist überfordert mit der Diagnose, mit den Gedanken, die sie befallen: Wird ihr Mann das Ganze überleben? Was macht die Erkrankung mit ihr und der kleinen Tochter? Und wie wird es weitergehen, falls ihr Mann nicht überlebt?

Der behandelnde Hämatoonkologe beantwortet ihre Fragen rund um die Untersuchungen, berät und begleitet das Paar. Die Ergebnisse der pathologischen Untersuchungen ergeben: Eine Chemotherapie ist nötig, danach Bestrahlung. Die behandelnden Ärzte haben für Benjamin Burkhardt einen individuellen Therapieplan erarbeitet. Tanja Burkhardt managed den Alltag – irgendwo zwischen Zuversicht, wenn die Werte mal besser sind und Verzweiflung.

Vera Meier (Name geändert) ist 30 Jahre alt, als ihre Mutter die Diagnose Brustkrebs erhält. Damals steht die Biologin kurz vor der Abgabe ihrer Doktorarbeit. Die Prognose der Mutter ist nicht gut. Sie wird operiert, das befallene Gewebe großflächig entfernt. „Nach der Operation stand fest, dass erneut operiert werden muss“, sagt Vera Meier. Dass eine Mastektomie, also das Entfernen der gesamten Brust notwendig wird, ist nach der histologischen Untersuchung durch die Pathologie schnell klar. Es folgen drei Chemotherapie-Zyklen. Der Mutter geht es sehr schlecht, der Vater leidet mit. Auch, weil der ältere Bruder von Vera Meier bereits im Kindesalter an Leukämie erkrankte und daran verstarb. Für die Erkrankung der Mutter findet die Familie nun einen ganz eigenen Umgang. „Ich habe häufig mit meiner Mutter telefoniert, war für den Optimismus zuständig“, erklärt Vera Meier. Täglich redet sie mit ihrer Mutter, spricht Mut zu, liest sich die Berichte durch, die die Eltern nicht lesen wollen. Dass die Tochter sie in der Klinik besucht, möchte die Mutter nicht. Auch nicht, dass sie ohne Perücke gesehen wird. Die Tochter akzeptiert dies, hält sich zurück und ist gleichzeitig dann da, wenn sie gebraucht wird. Dass die Mutter an ihrer Erkrankung versterben könnte, versucht Vera Meier so gut es geht auszublenden. „Wir hatten als Familie die Strategie, jeden Behandlungsschritt Stück für Stück anzugehen, nie zu sehen: Das kommt alles noch auf uns zu, sondern: Das haben wir schon geschafft.“ Ihre persönliche Herangehensweise als Tochter an die Erkrankung der Mutter ist geprägt von einem großen Bedürfnis an Informationen. Als Biologin kann sie die Befunde lesen und einordnen. Auch, wenn die Werte mal nicht gut sind und die Aussichten eher schlecht. „Ich wollte immer wissen, wie der Gegner aussieht“, sagt sie.

Informieren, nachfragen, einordnen

Und damit nimmt Vera Meier eine Rolle ein, in die viele Angehörige schlüpfen, wenn die Eltern, der Partner oder die Partnerin an Krebs erkranken. Während sich die erkrankte Person auf ihre Behandlung fokussieren muss, sind es vielfach die Angehörigen, die Fragen stellen, bei behandelnden Ärzten nachhören, wenn sie den Patienten zum Arztgespräch begleiten. Was bedeutet es, wenn der Tumor mittelgradig differenziert ist? Wie sieht eine Standardchemotherapie aus und wie kann Nebenwirkungen begegnet werden, die auf die Patienten zukommen werden? Es sind die Angehörigen, die nachhaken, wenn sie einen Befund nicht verstehen und wenn nicht klar ist, wie es nun weitergeht und die unter Umständen auch eine zweite Meinung einholen.

Wie bei jedem komplizierten Thema gilt zudem auch hier: Vier Ohren hören mehr als zwei. Insbesondere dann, wenn der Sachverhalt schwierig ist und Emotionen im Spiel sind. Ist die an Krebs erkrankte Person einverstanden, sollte darum immer eine Begleitperson mit zu den Arztgesprächen gehen, sich gegebenenfalls im Vorfeld Fragen notieren und während des Termins Notizen machen, damit wichtige Informationen nicht aufgrund der emotionalen Belastung vergessen werden.

Und es sind auch die Angehörigen, die den Alltag organisieren müssen, die die Rolle der Fahrer und Terminkoordinatoren übernehmen. Dabei ist eines jedoch wichtig: nicht über den Kopf der erkrankten Person hinweg zu entscheiden und die Stimmungsschwankungen, die Unsicherheiten und Wut der Betroffenen nicht persönlich zu nehmen. Und auch die Entscheidungen des Patienten oder der Patientin gilt es ernst zu nehmen. Auch, wenn das nicht immer leichtfällt. Insbesondere dann nicht, wenn Krebspatienten eine Therapie ausschlagen und nur noch auf die Möglichkeiten der Palliativmedizin zurückgreifen wollen, müssen Angehörige diese Entscheidung akzeptieren. Auch Tanja Burkhardt muss sich damit abfinden, dass ihr Mann sich gegen die regelmäßige Nachsorge entscheidet, als seine Therapie abgeschlossen ist. Zu tief sitzt seine Angst, dass die Leukämie zurückkommen könnte. Tanja Burkhardt kann das nicht akzeptieren, überredet, ist wütend, verzweifelt. Am Ende nimmt sie seine Entscheidung hin. Insbesondere in Situationen wie diesen gilt es für Angehörige von Krebspatienten, auf sich selbst und das eigene Wohlbefinden zu achten.

Risiko für psychische Beeinträchtigungen bei Partnerinnen und Partnern

Denn dass die Krebserkrankung von Angehörigen sich nachhaltig auf einen Menschen auswirkt, zeigen auch Studien. So haben Wissenschaftler um Qianwei Li vom Karolinska Institut in Stockholm herausgefunden, dass Partnerinnen und Partner von Krebspatienten im ersten Jahr nach der Krebsdiagnose ein um 30 Prozent erhöhtes Behandlungsrisiko infolge psychischer Beeinträchtigungen haben als Lebensgefährten von Menschen ohne Krebsdiagnose. 1)

Sinnvoll ist hier eine psychoonkologische Betreuung auch für die Angehörigen von Krebspatienten. Psychoonkologen übernehmen die psychologische Betreuung von Krebspatienten. Gemeinsam mit den Betroffenen entwickeln Psychoonkologinnen und Psychoonkologen Strategien zum Umgang mit der Diagnose und den Folgen der Erkrankung, den Ängsten und Unsicherheiten. Ob und in welchen Fällen die Krankenkasse die Kosten hierfür trägt, sollte immer im Einzelfall erfragt werden.

Die Angst als ständiger Begleiter

Selbst, wenn der Patient die Krebserkrankung übersteht, bedeutet dies nicht immer automatisch, dass er und seine Angehörigen wieder selbstverständlich zum Alltag übergehen. Denn die Sorge vor einem Rezidiv, dem Wiederauftreten der Erkrankung, schwebt wie ein Damoklesschwert über der Familie. Und so ist insbesondere die Zeit der Nachsorge, die bei ehemaligen Krebspatienten regelmäßig, meist zunächst alle drei Monate, nach einiger Zeit alle sechs Monate stattfindet, geprägt von Unsicherheiten und Ängsten, die die Familie immer wieder aufs Neue belasten können. Hier ist es ratsam, nicht jedes Wort der betroffenen Person auf die Goldwaage zu legen oder persönlich zu nehmen. Auch, wenn dies aufgrund der eigenen emotionalen Betroffenheit nicht immer leicht für die Angehörigen ist.

Dazu kommt die Sorge, wenn der Tumor erblich bedingt ist. Denn hier besteht ein erhöhtes Risiko, dass auch die Kinder an Krebs erkranken. Ist eine Patientin etwa an einem Mammakarzinom infolge von Veränderungen in den Risikogenen BRCA1 und BRCA2 erkrankt, kommt es bei den Kindern in bis zu 80 Prozent der Fälle ebenfalls zu einer Brustkrebserkrankung. Um hier Klarheit zu bekommen, wird zunächst eine Biopsie durchgeführt. In der histologischen Untersuchung werden die entnommenen Gewebeproben aus dem Tumor durch Pathologinnen und Pathologen betrachtet und analysiert. Auf diese Weise kann bestimmt werden, ob auch die Kinder ein erhöhtes Brustkrebsrisiko haben. Ab dem 18. Lebensjahr kann auch bei diesen ein Gentest durchgeführt werden, der Aufschluss über das Brustkrebsrisiko gibt.

Nicht nur Brustkrebs, auch andere Krebserkrankungen können genetisch bedingt sein. Beispielsweise Darmkrebs. Auch hier spielt die pathologische Untersuchung des Tumors daher eine wichtige Rolle.

Darüber, dass sie selbst an Brustkrebs erkranken könnte, macht sich Vera Meier keine gesteigerten Sorgen. Bei ihrer Mutter trat der Tumor erst nach der Menopause auf. Dass es sich um erblich bedingten Brustkrebs handelt, ist daher eher unwahrscheinlich. Zehn Jahre sind seit der Diagnose nun vergangen. Die Mutter gilt inzwischen als geheilt und die Familie hat einen für sich guten Weg gefunden, mit dem Erlebten umzugehen.


1) Li Q et al. JAMA Netw Open. 2023 Jan 3;6(1):e2249560. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2022.49560. PMID: 36602801.