Fit für das molekularmedizinische Tumorboard – Fallbasierter interaktiver Workshop

Hörsaal in Hausnummer 75BVier Fälle an vier Whiteboards. Und vier Gruppen im Halbkreis: In jeder sind Onkologen, Pathologen, Biologen und Pharmakologen bunt gemischt. Die Aufgabe: im Team die Befunde diskutieren. Also ein Tumorboard nachstellen, wie es in Kliniken Alltag ist. Und zwar über die Grenzen der Disziplinen hinweg. „Fit für das molekularmedizinische Tumorboard“ heißt der Auftakt zu einer Veranstaltungsreihe des Hamburger Instituts für Hämatopathologie – durchgeführt gemeinsam mit der Lübecker Pathologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein.

Begrüßung durch Dr. Markus TiemannUnd das Neue an der Idee betont der Hamburger Institutsleiter Markus Tiemann schon bei der Begrüßung: Es geht ihm um die „interdisziplinäre Attitüde der Veranstaltung“ – wie im echten Leben, wie in den Kliniken, wie bei den Tumorboards vor Ort – nur dass es hier auch um gegenseitiges Lernen geht. Und um einen Blick in die Zukunft. Denn die rückt schnell näher: Gerade in diesem Gebiet überholt die Forschung sich selbst, immer neue Erkenntnisse stellen auf den Kopf, was noch kürzlich als Gewissheit galt – also geht’s um eine Optimierung der Lernphase: „Oft dauert es vier Jahre, bis eine neue Entwicklung Kreise gezogen hat“ – zuviel für manchen Patienten, der verzweifelt auf Hilfe wartet. Daher haben die Lübecker und die Hamburger Pathologen auch vor allem junge Ärzte und Wissenschaftler im Auge. Markus Tiemann: „Molekularpathologie ist ja ein viel größeres Thema geworden für die Pathologie-Ausbildung und überhaupt für die Praxis. In den vergangenen zehn Jahren ist es da fast zu einem Paradigmenwechsel gekommen.“

Auf den hatte schon Dr. Athena Chalaris-Rißmann, Molekularbiologin vom Institut für Hämatopathologie, in einem der kurzen Referate am Morgen hingewiesen: Noch vor 20 Jahren wurden alle Patienten nach ihrer Diagnose weitgehend gleich behandelt – mit einer Chemotherapie. Dies hat sich seither entscheidend geändert: Mittlerweile sind viele Moleküle bekannt, die als Biomarker dienen. Und auf eine histologische Untersuchung folgt die Expertise der Molekularpathologie: So wird mit neuen Methoden ein umfassendes Tumorprofil erstellt. Chalaris-Rißmann fragt das Auditorium im großen Hörsaal des Instituts in Hamburg-Stellingen: Ist es denn heute wirklich noch wichtig, wo der Tumor entstanden ist? Oder zählt vielmehr, wie er entstanden ist – zählt also eine möglichst präzise Kenntnis seiner genetischen Treiber?

Arbeitsgruppe vor WhiteboardUnd dann führt die Teilnehmer der Weg an die Whiteboards, die im Saal verteilt sind. Alle vier Fälle stammen aus dem Alltag der beiden Institute. Da ist eine 41-jährige Patientin mit einem Lungenkarzinom. Sie hat nie geraucht, klagte aber über Husten und Leistungsverminderung. Der klassische Fall: In der Lunge fand sich ein Schatten, der Verdacht auf ein Lungenkarzinom wurde diagnostiziert. Vom ersten Test an wird der Fall der Patientin am Whiteboard dargelegt – Schritt für Schritt. Und jeder dieser Schritte wird von den ganz unterschiedlichen Experten in der Gruppe diskutiert und interpretiert: Wie sind diese Ergebnisse zu werten, wie soll es jetzt weitergehen, was sollte am Besten getestet werden? Ermittelte Werte des Falls werden hinzugefügt, eine allumfassende genetische Testung ergab viele Fragezeichen. Was fordert der Onkologe nun wohl an, wie sieht die Praxis in der Klinik aus? Und wie kommt diese Anforderung im Institut an, wie gehen hier die Experten mit den Wünschen und Vorgaben um?

Alle Seiten tauschen sich über den Fall der Patientin am Whiteboard aus. Ein NGS Turnaround würde von der Präanalytik über das Labor bis zur Anwendung zehn Werktage dauern, in Notfällen mit ‚fast track‘ sind es drei bis fünf Werktage. Ungewöhnlich: Es handelt sich um eine recht junge Patientin, aber um ein lokal bereits fortgeschrittenes Karzinom. Das entscheidende Ziel hier wie in allen Fällen: ein längeres Überleben für die Patienten bei guter Lebensqualität sicherzustellen. Helfen kann das molekulare „Fischen“ mit der Hilfe von Baits: Dies erhöht deutlich die Chancen, Punktmutationen und Translokationen in der DNA zu entdecken. Die Gefahr: Es könnte ein falsch-negatives Ergebnis herauskommen. Markus Tiemann: „Wenn Ihr im Zweifel seid, macht lieber ein Next Generation Sequencing (NGS).“ Welche Alternativen gibt es also, was wäre wichtig für eine Liquid Biopsy? Am Ende stehen die Ergebnisse zweier echter Tumorboards an der Wand – und die Frage im Raum: Wie geht es jetzt weiter mit der Patientin? Erneut bringt die Gruppe ihre geballte Erfahrung ein.

Arbeitsgruppe vor WhiteboardAll dies, so betont Tiemann, sind echte Fälle – aus den Instituten werden den Spezialisten aus Klinik und Forschung reelle Fragen und auch die Komplikationen der Fälle geschildert. Nur so, davon ist man hier überzeugt, lässt sich die Zusammenarbeit optimieren – zum Gewinn der Patientin in ihrem Stadium mit einem fortgeschrittenem Karzinom. Verbunden wird dies immer wieder mit einem Blick in die Zukunft: Frau Prof. Katharina Tiemann vom Institut für Hämatopathologie deutet an, was noch kommen kann im Kampf gegen die Karzinome in diesem sich rasant veränderndem Forschungsgebiet.

Ein paar Meter weiter im Hörsaal geht es um einen CUP-Fall (Cancer of unknown primary) – ebenfalls eine recht junge Patientin mit einer schmerzhaften Lymphknoten-Vergrößerung und einem wenig differenzierten Karzinom in einem anderen Lymphknoten. Ist es der gleiche Tumor? Frau Prof. Jutta Kirfel von der Pathologie des UKSH Lübeck berichtet aus ihrem Umgang mit dem Fall: „Da haben wir das größte NGS-Panel genommen“. Es sind solche Alltags-Erfahrungen aus den Laboren, die als Ausgangspunkt für Diskussionen am Whiteboard dienen. „Sind diese Infos hier für Sie wichtig?“ Sind sie eigentlich nicht so wirklich: „Halbwichtig“, so heißt es aus der Runde – ein Erfahrungsgewinn für die Labore. Und viele offene Fragen: Lohnt sich eine Analyse des NTRAK-Gens? Und wenn ja, von welchem NTRAK-Gen – 1, 2 oder 3? Dr. Markus Falk vom Institut für Hämapathologie blickt nach vorn: „Es gibt dafür ganz neue Techniken“. RNA-Archer ist hier der neue Rising Star.

Prof. Verena Sailer aus LübeckEs ist ein Lernprozess auf beiden Seiten, der am Morgen begann mit einer Reihe kurzer Referate der Experten aus den Reihen der veranstaltenden Institute: In denen ging es um die verschiedenen aktuellen Analyse-Verfahren, ging es um die Immunhistochemie und die Fluoreszenz in-situ Hybridisierung (FISH), das Next Generation Sequencing und die Liquid Biopsy. Alles, um die Möglichkeiten moderner Molekularmedizin darzustellen und den Weg an die Whiteboards zu bereiten. Ein Konzept, das in Kombination mit den Einzelfällen überraschend gut funktioniert hat: „Dieses Format hat richtig Spaß gemacht“, so Prof. Verena Sailer von der Pathologie des UKSH Lübeck. Sie lobt vor allem das Zusammenwirken über alle Fachgebietsgrenzen hinweg. Das hatte schon Prof. Sven Perner, Leiter der Pathologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (Standort Lübeck), in seiner Einführung betont: „Wir sehen die Grenzen zwischen den Disziplinen verschwinden.“

„Also… Dafür, dass das erst die Pilotveranstaltung war…“: Markus Tiemann ist am Ende schwer erleichtert und gleichzeitig hochzufrieden. Der Institutsleiter, der jeden der Teilnehmer morgens per Handschlag begrüßt hatte und zwischendurch einer schwer verschnupften Referentin auch mal das Taschentuch reicht, sieht sich bestätigt: „Die Leute haben ganz viele Fragen gestellt, die praxisrelevant sind und die sie für ihre tägliche Arbeit brauchen. Und sie haben auch die therapeutische Bedeutung ihrer diagnostischen Ergebnisse diskutiert. Bei vielen konnte man sehen, dass sich da etwas in Bewegung gesetzt hat. Und genau das wollen wir ja: dass die Leute über den Tellerrand gucken.“

Zustimmung kommt auch von Teilnehmern wie Dr. Elisabeth Mack, Ärztin für Hämatologie, Onkologie und Immunologie am Universitätsklinikum Marburg: „Ich fand die Veranstaltung sehr kurzweilig und sehr interessant. Mir ging es darum, wie andere Leute an diese gen-basierte Diagnostik herangehen, wie sie das auswerten. Die Diskussionen auf den Kongressen für Pathologie sind meistens sehr theoretisch. Daher war mir hier der Austausch sehr wichtig. Und zwar auch mit Leuten, die Diagnostik machen. Ich fand die Diskussionen sehr anregend – es war eine sehr gelungene Veranstaltung. Das bringt für uns auch was in der Praxis.“ Und Dr. Florian Stellmacher, Geschäftsführender Oberarzt des Leibniz-Forschungszentrum Borstel: „Ich bin angenehm überrascht – ich fand die Diskussionen sehr lebhaft. Das Konzept geht absolut auf.“

Gute Aussichten also für weitere Veranstaltungen der beiden Institute. Weshalb die Lübecker und Hamburger Kollegen an einer Fortsetzung arbeiten. Markus Tiemann: „Soweit wir wissen, ist sowas bundesweit einmalig. Wir würden das gern künftig ein- bis zweimal im Jahr machen, werden das Format beibehalten, aber natürlich andere Fälle bringen.“ Im Blick haben die Veranstalter dabei vor allem auch den Nachwuchs. Frau Prof. Katharina Tiemann: „Das Zielpublikum sind tatsächlich die jüngeren Pathologinnen und Pathologen und diejenigen, die noch in der Facharzt-Ausbildung sind. Weil die in diese Welt ja reinwachsen, auch reinwachsen müssen.“ Kurzes Innehalten. Dann: „Die nächsten Dekaden werden garantiert nicht langweilig“.

Die Veranstaltung „Fit für das molekularmedizinische Tumorboard“ fand am 14. Dezember 2019 im Institut für Hämatopathologie Hamburg in der Fangdieckstr. 75B statt. Die Veranstaltungsreihe wird fortgesetzt.

Fotocredits: Karl-Peter Naumann (1) + Ralf Dorschel (2-5)