„Die Menschen am Herzen erreichen“ – die Hamburger Stiftung RobinAid

Operation in Yaoundé„Ich komme mir vor wie ein Tiger im Käfig, weil ich nicht rauskann“: Für Matthias Angrés ist die Corona-Krise besonders kritisch – weil sie Leben kostet. Nicht die Leben an Covid-19 erkrankter Menschen. Sondern Kinder-Leben in Yaoundé – der Hamburger Arzt betreibt mit seiner Hilfsorganisation RobinAid eine Herzklinik in Kamerun. Hier werden vor allem Kinder mit angeborenen oder erworbenen Herzfehlern behandelt – unbehandelt ein Todesurteil, mit einem Eingriff aber in den Griff zu kriegen. „Und jetzt streichen wir jede Woche zwei Kinder von unserer Liste, weil sie sterben“. Denn in Kameruns Hauptstadt gilt, was auch in Europa zutrifft: Krankenhäuser müssen ihre Kapazitäten für Virus-Notfälle freihalten. Planbare OPs entfallen, die herzkranken Kinder von RobinAid bleiben auf der Strecke. Für Angrés ist das alles unerträglich – diese Krise, ihre Folgen, aber auch die erzwungene eigene Hilflosigkeit. Denn hilflos fühlt sich der 62-jährige Intensivarzt und frühere Leiter des Hamburger Albertinen-Krankenhauses sonst nie: „Das fordert mich heraus, wenn mir jemand sagt: Das kriegst Du nicht hin. Denn natürlich kriege ich das hin!“

Vor elf Jahren hat Angrés RobinAid gegründet und flog herzkranke Jungen und Mädchen aus Afghanistan zur Behandlung nach Deutschland. Seine Einsätze machten ihn bekannt, die Bilder der Kinder auf dem Rollfeld brachten viele Spenden. „Aber diese ‚Kinderluftbrücken‘ waren das falsche Konzept. Mir wurde klar, dass das nur vor Ort gehen kann“. Heute konzentriert er sich auf wenige Standorte, aktuell vor allem Yaoundé und das Aswan Heart Centre im südägyptischen Assuan. Hier hat er in anderen Stiftungen Partner gefunden: „In Yaoundé war ein örtliches Krankenhaus, wo wir feststellten, dass die Technik einigermaßen hinhaut.“ Mit der Unterstützung zweier deutscher Medizinfirmen wurde die notwendige Beatmungs- und Monitortechnik eingebaut: „Innerhalb von sechs Wochen haben wir eine Intensivstation mit fünf Betten aufgebaut und seit Mai 2019 pro Monat dort zehn bis zwölf Kinder operiert.“

Bis jetzt halt. Bis er nicht mehr reisen darf und bis die Betten in Assuan und Yaoundé für Corona-Patienten freigehalten werden mussten. Denn diese fünf RobinAid-Beatmungsplätze – sie sind die einzigen im gesamten Kamerun. „Irgendwer hat der Regierung jetzt 100 Beatmungsgeräte spendiert“, so Angrés wütend. „Das hilft denen aber nicht, weil sie niemanden haben, der die bedienen kann. Und es in den Krankenhäusern keine zentrale Sauerstoffversorgung gibt, keine Beatmungsschläuche.“ Bittere Folge: „Jetzt hat Kamerun 105 Beatmungsplätze, aber unsere fünf reichen nicht und die anderen 100 kann man nicht nutzen.“

Sowas bringt Angrés auf die sprichwörtliche Palme: Diese Arroganz und Ignoranz im Umgang mit Afrika. Denn woher kommen denn wohl die Seltenen Erden auf den Platinen der Beatmungsgeräte, mit denen auf deutschen Intensivstationen Leben gerettet werden? „Ich habe Minen in Kamerun gesehen – da kann man nur Kinder reinschicken. Viele kommen nicht wieder raus. Mit welchem Recht schicken wir da jetzt bisschen Geld hin und spenden denen ein paar Beatmungsgeräte?“

In YaoundéAfrika als Partner endlich ernst nehmen, das fordert Angrés: „Das ist ein junger Kontinent, der hat alle Trümpfe in der Hand! Die brennen drauf, dass man sie loslässt.“ Ruanda ist das nächste Ziel des Hamburger Arztes, auch in Kigali will RobinAid eine Herzklinik aufbauen. Und er will den Nachwuchs vor Ort ausbilden: „Das Aufbauen lokaler Strukturen ist für uns entscheidend“: Eine Berliner Startup-Firma arbeitet gerade an einer Online-Plattform für RobinAid – und mit deren Hilfe sollen die Fachleute an allen Standorten der Stiftung vernetzt werden. Und dann will er noch die erste afrikanische Einkaufsgenossenschaft auf die Beine stellen, um den überzogenen Forderungen von Pharmakonzernen und Geräteherstellern in Afrika Marktmacht entgegenzustellen: „Eins der für uns wichtigsten Medikamente kostet in Deutschland drei Euro pro Ampulle – wenn Sie gut verhandelt haben, auch weniger. In Assuan kauft das Herzzentrum die gleiche Ampulle für 36 Euro ein. Das ist unmoralisch“. Den Kontinent aus seiner Opferrolle zu befreien ist ein Herzensanliegen von Angrés: „Wenn man die Afrikaner vernetzt, dann können die die Welt auseinandernehmen.“ Verschmitztes Lächeln, funkelnder Blick: „Und ich will ihnen dabei helfen.“

Es war der 9. Dezember 2019, als Soraya Mbea zu Angrés in Yaoundé kam. Nicht wegen eines Herzleidens – im Brustkorb der 19-jährige Medizinstudentin wucherte ein Tumor. Angrés: „Sie hat gesagt: ‚Ich lasse euch keinen andere Chance, ich will behandelt werden‘.“ Für den Arzt eine ganz besondere Herausforderung, denn RobinAid kann ihr nicht helfen – Soraya liegt oberhalb der in den Statuten festgesetzten Altersgrenze, auch sind alle Gelder der Stiftung projekt- und konzeptgebunden. Doch der Fall ließ Angrés keine Ruhe: Er machte eine Biopsie, sein alter Freund Markus Tiemann vom Hamburger Institut für Hämatopathologie übernahm die Typisierung und fand ein B-Zell-Lymphom mit einer seltenen Antikörperstrukturierung. Tiemann ebnete den Weg ins Universitätsklinik Göttingen, wo die junge Frau nun seit dem 29. Januar behandelt wird. Die enormen Kosten werden von einer Reihe von Helfern, darunter auch den Tiemanns, getragen, die Klinik übernahm den stationären Teil der Behandlung. Mit Erfolg: Heute geht es Soraya gut, der Tumor ist jetzt schon sehr viel kleiner, die Abschlussuntersuchungen sind für Mai geplant – „und wenn sich dann zeigt, dass der Tumor komplett weg ist, dann kann sie im Herbst zurück nach Kamerun.“ Dass er wirklich jedes Risiko eingeht, um ein Leben zu retten – das ist bei Angrés weit mehr als nur ein Spruch.

„Natürlich brauchen wir Geld“, so Angrés über die Arbeit von RobinAid. „Aber wir wollen die Leute aber auch erstmal am Herzen erreichen“. Er setzt auf eine Generation von idealistischen jungen Medizinern in Deutschland: „Wenn die Lust haben, über den Tellerrand zu gucken, sollen sie sich an uns wenden“. Doch auch wenn deutsche Pathologen vor Ort im Moment nicht gebraucht werden – man kann sie immer noch mit den Pathologen in Kamerun vernetzen. „Oder Dermatologen: Aktuell brauche ich keine – aber ich bin drauf angewiesen, jemandem im Netzwerk ansprechen zu können, wenn jemand dort ein Melanom hat, von dem ich keine Ahnung habe.“ Angrés Vision geht weit über die konkrete Hilfe für herzkranke Kinder hinaus: „Alle können was beitragen! Medizin muss wieder ein soziales Produkt werden und nicht ein Renditeobjekt.“

Wenn Corona vorbei ist, wenn die Flieger wieder gehen, wenn die RobinAid-Betten wieder für die herzkranken Kinder frei sind, dann will er seine Arbeit vor Ort rasch wieder aufnehmen. Der Arzt, der seit 2009 genau wie alle seine Mitarbeiter komplett ehrenamtlich arbeitet und 2017 das Bundesverdienstkreuz erhielt, fordert: „Die Medizin, die wir hier in Deutschland machen, ist ein Luxus. Und diesen Luxus dürfen wir nicht für uns behalten. Wir sagen nicht mehr: Wir sind die Guten, wir sind die Charity und fliegen da mal hin. Diese Länder haben ein Recht auf die genau gleichen Gesundheitsstandards wie wir!“

Mehr Informationen über RobinAid auf der Webseite robinaid.eu