12 Jahre Ausbildung, kaum Aufstiegschancen und eine Bezahlung, die zu wünschen übrig lässt – Rechtsmedizinerin Dr. Maria Krause fragt sich gleich im ersten Kapitel von Susanne Stauns Krimi „Totenzimmer“, warum ausgerechnet sie diesem Job nachgeht. Doch der Leser muss nicht darum bangen, seine Heldin an einen anderen Beruf zu verlieren. Krause stellt sofort klar, die Antwort sei ganz offensichtlich: „Die Toten waren deutlich weniger anspruchsvoll als die Lebenden.“
Die Lebenden bereiten der Protagonistin der dänischen Autorin ebenso viele Probleme, wie das Leben außerhalb des Obduktionssaals. Die Kolleginnen meiden sie. Krause geht ihnen aus dem Weg. Die Kommissare, allen voran der leitende Ermittler Tommy Karoly, hassen ihren Ton, beschweren sich bei den Vorgesetzten über sie. Krause versucht nicht aufzufallen, nimmt sich vor, den Mund zu halten: „Je weniger du sagst, desto weniger sagen sie.“ Doch der Vorsatz hält nicht lange. Mit ihrer gründlichen unvoreingenommenen Art und einer Prise Zynismus lässt sie Karoly auflaufen, der dazu neigt, voreilige Schlüsse zu ziehen.
Nur ihrer einzigen Freundin, der gebürtigen Nigerianerin Nkem, Doktor der Chemie und Computergenie, und dem Leser vertraut Maria ihre Gefühle, ihr Inneres und die Abgründe ihrer Seele an. Das Leben hat ihr übel mitgespielt. Über viele Jahre rettete sie sich nach einer Gewalterfahrung in eine Phantasiewelt.
Oft wirken Marias Handlungen und Bewältigungsstrategien befremdlich. Sie schwankt zwischen Verletzlichkeit, Lähmung und Wut. Der Leser schwankt zwischen Mitgefühl und Antipathie. Nüchtern beschreibt Krause sich selbst und ihr Verhältnis zur Freundin: „Nkem war der einzige Mensch auf der Welt, der es mitunter schaffte, die Schrauben in meinem Kopf, die nach meiner Geburt nie richtig festgezogen worden waren, einigermaßen anzuziehen.“ Aber Staun schafft es, ihr Publikum in den Bann der Geschichte und dieser sonderbaren, tief verletzten Anti-Heldin zu ziehen.
Ganz im Gegensatz zum persönlichen Chaos steht das professionelle Verhalten der Rechtsmedizinerin Maria Krause. Auch wenn sie sich zusammenreißen muss, nicht die Fassung zu verlieren am Tatort, am Obduktionstisch und bei der Recherche. Sowohl im ersten Band „Totenzimmer“ wie auch im zweiten „Blutfrost“ rücken ihr die Toten und deren Geschichte ganz nah. Trotzdem legt sie professionell präzise und neugierig das Obduktionsbesteck an. Macht sie sich anfangs noch über Serien wie CSI lustig, überschreitet sie schnell selbst die beruflichen Grenzen der Rechtsmedizin, ermittelt ausführlich und auf eigene Faust. Dabei begibt sie sich zunehmend in Gefahr.
Die Beschreibungen von der Sektion, den Verletzungen und den rechtsmedizinischen Einzelheiten sind ein wenig ausführlich geraten. Aber es ist deutlich zu merken, dass die Autorin sich rechtsmedizinischen und forensischen Input von Fachleuten geholt hat. Im Anhang widmet Staun eine ganze Seite ihren verschiedenen Ratgebern.
Maria Krause beginnt zu Anfang des ersten Krimis „Totenzimmer“ eine neue Laufbahn als stellvertretende Gerichtsmedizinerin in Odense. Weder die berufliche Herausforderung noch das Arbeitsumfeld locken sie an die neue Arbeitsstätte. Sie folgt Nkem, die etwas Neues braucht, „um die friedlich schlummernden, selbstzufriedenen Gehirnzellen in meinem Kopf zu aktivieren“.
Anfangs etwas verwirrend, aber sehr gekonnt, springt die Autorin in verschiedenen Zeitebenen hin und her und rollt damit die Hintergründe ihrer Protagonistin auf. Der Mörder darf parallel dazu seine innere Welt in Tagebucheintragungen ausbreiten. Das ist zwar weder neu noch besonders originell, aber Staun gelingt es geschickt, das etwas angestaubte literarische Mittel einzuflechten und ihm einen spannenden Faden zu entlocken. Gegenüber der Ich-Erzählerin Maria Krause wirkt der Bösewicht fast abgeklärt, planvoll und auf jede Einzelheit vorbereitet.„Mein Gewissen hat nichts gegen Sünden, und ich habe, wie man so schön sagt, kein Schamgefühl; darum müssen andere sich kümmern“, vertraut er seinem Tagebuch an.
Gegen Ende von „Totenzimmer“ überschlagen sich die Ereignisse ein wenig. Krause durch- und überlebt einen Parforceritt mit inneren und äußeren Verletzungen, der oft die Grenzen des Erträglichen streift. Immerhin widmete Staun ihrer Protagonistin zwei weitere Romane, wovon der letztere noch auf seine Übersetzung ins Deutsche wartet.