ASH 2016: Therapieformen Therapieneuerungen bei myeloproliferativen Neoplasien (MPN)

Anfang Dezember 2016 fand in San Diego mit 27.000 Teilnehmern der Amerikanische Hämatologen Kongresses (ASH) statt. Wir waren mit vier Ärzten, bzw. Biologen vor Ort und haben uns über aktuelle Studien informiert und Methoden mitgebracht, die in Zukunft für unsere Institute eine größere Rolle spielen werden. Mit den neuesten Forschungsergebnissen zur Behandlung von myeloproliferativen Neoplasien (MPN) hat sich Dr. Thomas Stübig ausführlich befasst.

Was sind myeloproliferative Neoplasien?

Myeloproliferative Neoplasien (MPN) sind eine ganze Gruppe hämatologischer Erkrankungen. Die sicherlich bekannteste, die chronisch myeloische Leukämie (CML), ist durch die Aufklärung der Pathogenese des BCR-ABL-Onkogens und die erste zielgerichtete Therapie zu Recht eine der Modellerkrankungen der Onkologie geworden. Aber in der Gruppe der MPNs finden sich daneben noch die Polyzytämia vera (PV), essentielle Thrombozytämie (ET) und die primäre Myelofibrose (PMF). Die einzelnen MPNs sind mit einer Inzidenz von um 1/100.000 seltene Erkrankungen, aber als Gruppe sind sie diagnostisch bedeutsam. In den letzten Jahren hat sich besonders in der Molekulargenetik viel Neues ergeben. Herausragend in 2016 ist jedoch, dass die WHO neue diagnostische Kriterien der myeloproliferativen Neoplasien herausgegeben hat (Arber et al., Blood 2016). Die neue WHO-Klassifikation wurde auch auf dem ASH 2016 in San Diego vorgestellt und diskutiert. Dabei standen die folgenden Aspekte besonders im Mittelpunkt.

Reaktive Blutbildveränderungen in der Abgrenzung zu MPNs

Diagnostisch sicherlich der erste, wenn auch nicht der einfachste Schritt ist die Abgrenzung reaktiver Veränderungen zu den klonalen MPN. Eine sekundäre Polyglobulie, bedingt durch eine Lungenerkrankung, Nierenerkrankung oder im Rahmen des Rauchens muss von der PV unterschieden werden. Neben der inzwischen bekannten JAK2-Mutation ist auch der Erythropoetin-Spiegel (Epo-Spiegel) ein diagnostisches Werkzeug. Es gibt jedoch MPN, wenn auch wenige, bei denen der Epo-Spiegel normal oder, wie sonst bei den reaktiven Veränderungen, erhöht ist. Dies sollte man also in die differentialdiagnostischen Überlegungen einfließen lassen.

Auch bei den Thrombozytosen gibt es eine Reihe von reaktiven Ursachen, die vor der Diagnose einer ET ausgeschlossen werden müssen, wie z.B. chronische Infekte, Rauchen und Autoimmunerkrankungen. Bei den Leukozytosen müssen neben reaktiven Veränderungen auch die CML und, wenn auch selten, die chronische neutrophile Leukämie (CNL), sowie die chronische myelo-monozytäre Leukämie (CMML), abgegrenzt werden. Besonders bei den letzteren ist die Molekulargenetik zu dem entscheidenden diagnostischen Moment geworden.

Anmerkung: Die Abgrenzung zu reaktiven Veränderung ist nicht neu, aber auch in der Diagnostik sollte man sich immer wieder „zwingen“, die Fragen nach anderen Ursachen aufzuwerfen.

Genetische Daten

In der Diagnostik der MPNs kann die Bestimmung der Translokation (9;22) bzw. des Fusionsgens BCR-ABL nicht genug betont werden. In der neuen WHO wird der Ausschluss von BCR-ABL als Voraussetzung für die Diagnose einer der anderen MPNs gefordert. Auch als Diagnostiker sollte man sich hieran immer wieder erinnern. An der sonst bedeutsamen Stellung der JAK2V617F-Mutation hat sich auch 2016 in der Diagnostik der MPNs nichts verändert. 97% aller PV-Patienten zeigen eine JAK2V617F- oder JAK2-Exon-12-Mutation (Passamonti et al., Leukemia 2010). Aber nach der  WHO  ist es 2016 auch möglich, eine PV zu diagnostizieren, wenn neben der Erythrozytose die Knochenmarkhistologie der einer PV entspricht und der Epo-Spiegel erniedrigt ist (Arber et al., Blood 2016).

Kritisch bleibt anzumerken, dass die rein morphologischen Veränderungen einer PV und eines reaktiven Zustandes im Einzelfall schwierig abzugrenzen sein können. In diesem Fall müssten auch seltenere Mutationen eruiert werden (Vainchecker et al., Blood 2011). Bei 50-60% der ET und PMF findet sich die JAK2V617F-Mutation. Da die JAK2-Mutation darüber hinaus nur selten bei anderen Erkrankungen wie dem myelodysplastischen Syndrom (MDS) und der akuten myeloischen Leukämie (AML) gefunden wird, ist das Screening auf die JAK2-Mutation ein zentraler Bestandteil der MPN-Diagnostik in 2016. CALR-Mutationen finden sich in 20-25% der ET und PMF. Dabei werden vor allem  zwei unterschiedliche Mutationen betont (Typ I: 52 Basenpaar-Deletion; Typ II: 5 Basenpaar-Insertion; inzwischen wurden jedoch fast 50 unterschiedliche Mutationen beschrieben; Cazzola, Blood 2016). Bei JAK2-Negativität sollte also bei Verdacht auf eine ET oder eine PMF eine CALR-Analyse angeschlossen werden. Die WHO nimmt die CALR-Mutation somit auch in den diagnostischen Katalog für beide Erkrankungen mit auf.

Interessant ist vielleicht die Beobachtung, dass PMF-Patienten mit einer Typ-I-CALR-Mutation ein etwas besseres Überleben zeigen (Tefferi et al., Blood, 2014). Dies muss jedoch noch mit größeren Datensätzen validiert werden. Mutationen innerhalb des MPL-Gens finden sich in 3-10% der Patienten mit ET und PMF, so dass sich eine Analyse für die MPL-Mutation W515L/K als Folge an die CALR-Analyse bei anhaltendem Verdacht auf eine ET oder PMF anschließen sollte. Es bleiben gut 5% sogenannte triple negative MPN. Die neue WHO-Klassifikation fordert aber im Gegensatz zur WHO 2008 den Nachweis eines klonalen Markers. Dabei sind besonders folgende Gene zu erwähnen: ASXL1, EZH2, TET2, IDH1/2, SRSF2, SF3B1, DNMT3A. Diese Marker haben daneben auch eine prognostische Relevanz erreicht (Vannucchi et al., Leukemia, 2013).

Anmerkung: Die triple negativen MPNs bleiben ein diagnostisch „heißes Eisen“. Wenn man sich die Mutationen, insbesondere TET2, ASXL1 und DNMT3A, ansieht, findet man sie auch bei der klonalen Hämatopoese unbestimmten Potentials (CHIP; Jaiswal et al.; NEJM, 2014). Die Mutation alleine ist nicht ausreichend, um eine Diagnose zu stellen und besonders die eingangs erwähnte Abgrenzung zu reaktiven Zuständen bekommt unter diesem Aspekt ein besonderes Gewicht. Daneben müssen auch andere Erkrankungen, bei den die oben erwähnten Mutationen gefunden werden, abgegrenzt werden. Hier ist z.B. besonders das MDS mit Fibrose (MDS-F) zu nennen.

Morphologie

An der Morphologie hat sich freilich nichts geändert, aber die Wertung der morphologischen Veränderungen ist in der neuen WHO-Klassifikation anders. Die Morphologie und deren zentrale Bedeutung in der Diagnostik einer MPN wird von der WHO erneut unterstrichen. Insbesondere die Knochenmarkhistologie wird betont. Die Fokussierung auf die Histologie macht mit Blick auf die Neuerungen Sinn. So ist eine Fibrose bzw. eine prä-Fibrose zytologisch nicht zu beurteilen.

Besondere diagnostische Herausforderungen sind die Unterscheidung zwischen ET und prä-fibrotischer PMF, sowie die Unterscheidung im Fibrosegrad zwischen prä-fibrotischer PMF und PMF. Auch wenn dazu diagnostische Kriterien publiziert wurden (Thiel et al., Blood, 2011), wurde von klinischer Seite kritisch angemerkt, dass wenige bis wenig valide klinische Parameter zusätzlich helfen, die beiden Entitäten zu trennen. Dass eine Unterscheidung jedoch sinnvoll und prognostisch entscheidend ist, darüber herrscht Einigkeit, da Patienten mit einer prä-fibrotischen PMF ein höheres Progressionsrisiko und ein Risiko zur Leukämie-Transformation (Barbui et al., JCO, 2011) zeigen.

Auch die deutlichere Gewichtung des Fibrosegrades macht den klinischen Kollegen Schwierigkeiten, dabei bezieht sich die Kritik weniger auf die nun sehr konkret formulierten Kriterien, als vielmehr darauf, dass nun retrospektiv fast ein Drittel aller PMF-Patienten in die Kategorie der prä-fibrotischen PMF fallen, da in dieser Kategorie eine Retikulinfaservermehrung 1° erlaubt ist.

Anmerkung: Die Kritik der klinischen Hämatologen ist aus diagnostischer Sicht nur bedingt nachzuvollziehen. Die morphologischen Kriterien sind klar formuliert und in den Publikationen als möglich und valide reproduziert worden. Sicherlich ist es nun schwieriger, Studien, die auf den diagnostischen Kriterien der WHO 2008 beruhen, mit denen, die die Kriterien 2016 nutzen, zu vergleichen. Aber dies bietet auch die Möglichkeit, die bereits bestehenden Daten erneut zu evaluieren und unter den nun aktuellen Kriterien vielleicht noch schärfere Trennungen in den Risiko- und letztendlich Überlebensprofilen der unterschiedlichen Erkrankungen zu erhalten.

Cutoff-Werte bei ET und PV

Der Thrombozyten-Cutoff hat sich zwischen der WHO-Klassifikation 2008 und 2016 mit 450.000/µl nicht verändert. Anders sieht das bei der PV aus, neben dem Hämoglobinwert (Hb) wurde mit dem Hämatokrit (Hk) ein zweiter Wert für die Diagnostik eingeführt. Die Hb-Werte wurden von 18,5g/dl bei Männern und 16,5g/dl bei Frauen abgesenkt auf 16,5g/dl bzw. 16g/dl. Neu sind die Hk-Werte von 49% bzw. 48%. Die Kombination soll helfen, JAK2 mutierte ET von „maskierten“ PVs zu unterscheiden (Barbui et al., Am J Hematol, 2014). Der Hk-Wert ist dabei vor allem für die Kliniker interessant, da doch die Studien in der Therapie der PV einen Hk-Wert als Ziel hatten (Marchioli et al., NEJM, 2013). Man kann kritisch anmerken, dass das Absenken der Werte zu einer Zunahme an JAK2-Untersuchungen führen wird und sicher auch zu einer Zunahme der Therapie mit JAK2-Inhibitoren, falls Patienten nicht die geforderten Hk-Werte von unter 45% mit Hydroxyurea erreichen.

Fazit

Zentrales Element der Diagnostik der myeloproliferativen Neoplasien ist und bleibt die Morphologie. Die inzwischen umfangreiche und differenzierte molekulargenetische Diagnostik hat weiter an Bedeutung gewonnen und bildet die Säule der Diagnostik. Besonders die Gruppe der „triple negativen MPN“ bleibt eine diagnostische Herausforderung und die neuen Erkenntnisse der Molekulargenetik sind nötig, um diese Gruppe pathogenetisch zu verstehen. Besonders die Kategorie der prä-fibrotischen PMF wird einen in Zukunft zwingen, bei Vergleichen von Studiendaten sehr genau und kritisch hinzusehen.